Lektion 2: Individuelle Bilingualität
Definition: Die Kompetenz eines Menschen, zwei oder mehr Sprachen zu produzieren und/oder zu verstehen.
Schlüssel-konzepte
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Komplementaritätsprinzip
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Bilingualer Spracherwerb
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Person-Language-Bond
EINHEIT 1: FACETTEN INDIVIDUELLER BILINGUALITÄT
Der Spracherwerb hängt stark von der Familie und dem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld ab. Beim bilingualen Spracherwerb gibt es verschiedene mögliche Szenarien. Beispielsweise kommen beide Elternteile aus Italien, leben nun aber in der Deutschschweiz. Die Kinder sprechen zuhause dann vor allem Italienisch und lernen Deutsch in der Schule und mit Freunden. Oder das eine Elternteil kommt aus den USA, das andere aus Indien, beide wohnen aber in der Schweiz. Somit wächst das Kind mit drei verschiedenen Sprachen auf. Es gibt noch unzählige weitere Szenarien.
Dies führt dazu, dass viele bilinguale Personen nicht beide Sprachen genau gleich gut beherrschen. Eine Person kann beispielsweise auf Französisch erklären, wie ein Motor funktioniert, dafür aber nur mit deutschsprachigen Rezepten kochen. Dies nennt man Komplementaritätsprinzip. Die beiden Sprachen ergänzen sich also, sodass eine bilinguale Person zwar über alles sprechen kann, bei bestimmten Themengebieten aber eine Sprache bevorzugt. Dies ist eine logische Konsequenz aus der Art des Spracherwerbs. Die Person aus dem Beispiel oben hat vielleicht an einer französischen Universität Maschinenbau studiert, und von der deutschsprachigen Mutter das Kochen gelernt.
Wie man hier sieht, hat somit auch das Alter, in dem man eine Sprache erwirbt, einen Einfluss auf die Kompetenz. Oft denkt man, je jünger man ist, wenn man die Sprache lernt, desto besser beherrscht man die Sprache. Dies ist aber nicht immer so, sondern ist abhängig davon, wie stark man dieser Sprache ausgesetzt ist. Wenn man für einige Lektionen pro Woche in der Schule Französisch lernt, lernt man die Sprache wahrscheinlich langsamer, als wenn man als erwachsene Person nach Frankreich zieht und dann dauerhaft der Sprache ausgesetzt ist. Individueller Bilingualismus ist also nicht einfach gleich individueller Bilingualismus, sondern hängt von verschiedenen persönlichen Faktoren ab.
Aktivität 1: Diskussion
In welchen Bereichen benutzt du welche Sprachen/Dialekte? Diskutiere mit deinem:deiner Nachbar:in, über was du in den jeweiligen Sprachen, die du beherrschst, normalerweise sprichst. Gibt es Dinge, die du gar nicht in einer Sprache kommunizieren kannst, dafür in einer anderen umso besser? Denke dabei einerseits an Bereiche wie die Schule und Zuhause, aber auch an Tätigkeiten oder Gefühle.
Lösung: Bei dieser Aufgabe gibt es keine richtigen oder falschen Lösungen, da jede Erfahrung individuell ist.
EINHEIT 2: BILINGUALER SPRACHERWERB
Der Spracherwerb verläuft bei mono- und bilingualen Kindern ungefähr ähnlich schnell, die wichtigsten Meilensteine werden also zu ähnlichen Zeitpunkten erreicht, solange die bilingualen Kinder beiden Sprachen regelmässig ausgesetzt sind. Man lernt aber nicht zwingend die gleichen Strukturen beider Sprachen zur selben Zeit. Einige Sprachen haben eine einfachere Grammatik als andere, weswegen bestimmte Teile schneller gelernt werden. Kinder, die gleichzeitig Englisch und Deutsch lernen, werden das englische Artikelsystem, das grösstenteils aus dem Wort the besteht, wahrscheinlich schneller beherrschen als das deutsche mit seinen drei, scheinbar zufällig zugeteilten Genera (männlich, weiblich und sächlich) und den vier Fällen (Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv).
Es war aber lange unklar, ob bilinguale Kinder die beiden Sprachen getrennt oder als ein gemeinsames System lernen. Befürworter:innen der These, dass die Kinder die Sprachen als ein gemeinsames System lernen, begründen dies damit, dass kleine Kinder oft die Sprachen mischen. Beispielweise sagen sie bitte-please oder verbinden chaud und hot zu shot. Zudem hat man herausgefunden, dass es zu Beginn des Spracherwerbs kaum Überlappungen des Wortschatzes der beiden Sprachen gibt. Kinder kennen also entweder nur das Wort Katze oder cat, aber nicht beides, da auch im einsprachigen Erwerb pro Konzept erst nur ein Wort gelernt wird, bevor Synonyme dazukommen. Kleine Kinder sehen die Wörter der verschiedenen Sprachen also erst als Synonyme, und nicht als Wörter verschiedener Sprachen.
Eine Vielzahl Forschender geht jedoch davon aus, dass Kinder die beiden Sprachsysteme nicht vermischen. Kinder lernen früh, welche grammatikalischen Regeln zu welchen Sprachen gehören, und hängen beispielsweise keine italienischen Endungen an deutsche Wörter. Wenn sie die Sprachen mischen, handelt es sich meistens eher um Code-Switching (siehe Lektion 4) als ein tatsächliches Vermischen beider Sprachsysteme. Kinder können schon früh unterscheiden, mit wem sie welche Sprache sprechen sollen. In einer Studie sprach ein 15 Monate altes Mädchen mit seiner Nanny ausschliesslich Spanisch und mit der Mutter Englisch. Dies nennt sich Person-Language-Bond. Die Kinder teilen also recht streng jedem Menschen, den sie kennen, eine (oder mehrere) Sprache(n) zu. Wird diese Bindung verletzt (z.B. wenn die italienische Mutter plötzlich Schwedisch spricht), kann dies das Kind verwirren oder wütend machen. Dieser Person-Language-Bond erleichtert dem Gehirn das Sprechen, da die Auswahl an Wörtern und grammatischen Strukturen kleiner ist.
Bilingualität beeinflusst auch Gehirnteile, die nichts mit der Sprache zu tun haben. So sind bilinguale Personen in der Regel besser darin, ungewollte Reize zu unterdrücken, da sie dies gewohnt sind: wenn sie in einer Sprache sprechen, müssen sie die Worte der anderen Sprache unterdrücken.
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